c't 17/98, S. 76
Installationen aus Farben und Licht, Fotos und Videos, Poesie und Musik erfüllen die Netze. In CyberArt verschmilzt Kunst und Technik. Die Avantgarde wird virtuell.
Gibt es SpamArt? Stellt das Überfluten fremder Mailboxen mit ungewollter Post eine innovative Form der Kunstausübung dar? Und wenn ja, wie begegnet man ihr?
Jede Epoche hat halt ihre eigenen Ahnungslosigkeiten, und kaum etwas verrät den Zeitgeist deutlicher als die Dauerbrennerfrage, was Kunst ist, und vor allem, was keine sei. Noch in den frühen siebziger Jahren, als ich zur Schule ging, konnte die Debatte über abstrakte Farbblöcke und allzu konkrete Performances die Gemüter so sehr erhitzen wie die üppig dekolletierte Kaufhaus-Zigeunerin in schorfigem Öl, die mich von Party zu Party verfolgte beziehungsweise durch die elterlichen Schlafzimmer dieser fremden Wohnungen.
Kunst spaltete damals die Gesellschaft. Sie stellte, wie Jean-Paul Baudrillard sagt, eine 'Gegenmacht' dar. Sie verunsicherte, weckte Haß und Spott auf beiden Seiten des Abgrunds zwischen Vergangenheit und Zukunft: 'Was soll das sein, ein Huhn im Tuschkasten?' Die Unfähigkeit des bornierten Kleinbürgerpublikums, den Reiz kubistischer oder surrealistischer Bilder zu erkennen oder Warhols Suppendosen überhaupt als Kunst zu begreifen, war schrecklich komisch - für rebellierende Teenager jedenfalls, die in der Avantgarde und ihrer Liebe zum épater le bourgeois ('den Bürger vor den Kopf stoßen') Verbündete witterten. Wir genossen daher die wiederkehrenden Zeitungsmeldungen über Nachtwächter, die einmalige Installationen als Abfall entsorgt hatten. Oder über Museumskräfte, die höchst artifiziell quietschende Maschinenmobiles kunstfremd, aber ruhestiftend ölten. Ganz zu schweigen von den unzähligen Lieschen-Müller-Putzkolonnen, die sich mit Ata und Schrubber über jene - im wörtlichen wie übertragenen Sinne - aus dem Rahmen fallenden Kleckse und Fettränder hermachten, die doch gerade das Revolutionäre am Werk gewesen waren.
Diese Erinnerung blieb lebendig genug, um bis heute meine Hand zu hemmen. Wenn auch im letzten Augenblick. Die Flut aus ungewollter EMail, die über meine Festplatte hereingebrochen war, hatte ich wütend geschwärzt, die Maus zeigte bereits auf 'löschen'. Da bremste mich ein Verdacht. War ich womöglich im Begriff, angesichts ungewohnter CyberArt nun selbst auf die Meister-Proper-Position zu regredieren?
Angefangen hatte alles ein paar Tage zuvor mit einem Rundschreiben. Der WDR annoncierte seinen Cyberstar-Kunstpreis, in der Jury saßen die üblichen Verdient-Verdächtigen aus der inzüchtigen Multimedia-Szene, etwa Hans-Peter Schwarz vom Karlsruher Zentrum für Kunst und Medien, oder Gerfried Stocker, Direktor der Linzer Ars Electronica, des weltweit wichtigsten Avantgarde-Festivals. Am nächsten Morgen trudelte dann ein gutes Dutzend weiterer Mails ein, die sich auf dieses erste Rundschreiben bezogen. Und zwar in eindeutiger Art: 'Unsubscribe!' - 'DELETE!'
Da ich keineswegs der Absender gewesen war, beachtete ich die Aufforderungen nicht. 24 Stunden später allerdings ließ sich der Schaden nicht mehr ignorieren: Eine dreistellige Zahl von E-Briefen blockierte die Mailbox. Das Programm hatte sie automatisch heruntergeladen, und ich hatte sie ebenso automatisch löschen wollen. Nun aber, bei genauerem Hinsehen, erkannte ich viele Namen. Die Reihe der Absender las sich wie ein Auszug aus dem Who's Who der elektronischen Kunst und Kunsttheorie. Da war etwa der Komponist Tod Machover, der mit 50 anderen Künstlern und Wissenschaftlern am Media Lab des Massachusetts Institute of Technology die 'Brain Opera' kreiert hatte. Oder der InternetPionier Howard Rheingold, Autor von 'Virtual Reality' und Begründer von 'Electric Minds'. Ihnen allen ging es wie mir. Sie wollten in Ruhe gelassen werden und verlangten, von der MailingListe gestrichen zu werden.
Statt diese Forderung zu erfüllen, hatte der Betreiber jedoch die Nachrichten postwendend an alle anderen Adressen weitergeschickt. Was die Mail-Flut dramatisch ansteigen ließ und wilde Wut und Ausgelassenheit weckte. 'Get me off this WDR SPAM! Cyberstar, my ass!' fluchte Wolfgang Staehle, Begründer der New Yorker Netz-Institution 'The Thing'. Coco Conn, Netzkünstlerin vom Virtuelle-Stadt-Projekt 'Cityspace', vermutete, was immer sie schreibe, werde an alle Menschen geschickt, die sie je getroffen habe, weshalb sie, gewissermaßen in die Kamera winkend, ihre Mutter grüßte.
Binnen Stunden hatte der Spam eine gleichermaßen mißtrauische und offenherzige virtuelle Gemeinschaft produziert. 'Sind wir gehijacked worden?' fragte Brad Brace, Initiator des hypermodernen 'The 12-hour ISBN JPEG Project'. Und der kalifornische Mensch-Maschinen-Künstler Jason Ditmars mailte: 'Ich denke, ihr Typen seid alle witzig. Bitte sendet mir mehr von diesen kleinen Botschaften über nichts. Es ist, als wären wir alle eine große unglückliche Familie.'
Und in der Tat: Auf geradezu unheimliche Weise hatte sich unsere Notgemeinschaft entkörperlichter Stimmen einer ASCII-Kopie multimedialer CyberArt-Experimente angeglichen, 'sozialen Skulpturen' wie Bodies©INCorporated.
In diesem Web-Reich der Untoten weht von Osten her ein flüsternder Wind. Der Geruch von Feuer und Weihrauch, eingefangen in dunklen, verhüllenden Nebel, rollt zusammen mit der Flugasche verbrannter Leiber herüber und umschließt den Besucher. 'Du wirst freundlich aufgefordert, einzutreten in die dunkle und unheildrohende und doch seltsam einladende Necropolis©INCorporated ...' Wer diese Szene erlebt, mit dem geht es zu Ende. Er hat seinen individuellen Site-Zyklus von Geburt bis Alter hinter sich gebracht und darf sich aufs virtuelle Grabausheben vorbereiten, auf die ästhetische Entsorgung seines Kunstkörpers.
Einsam allerdings tritt er dem digitalen Sensenmann nicht gegenüber. Eine sechsstellige Zahl Cyberkunstliebhaber besuchte bereits die dank Java und VRML leidlich interaktive Web-Installation, beheimatet auf dem Server der University of California in Santa Barbara. Die Bausteine, aus denen die Gemeinschaft künstlicher Lebewesen entsteht, sind Texte, geometrische Formen, Texturen und Töne. Das Materialangebot, bereitgestellt von der 39jährigen Performance- und Installationskünstlerin Victoria Vesna, ist wohlsortiert wie in einem guten Do-it-yourself-Set. Einige tausend Cyberreisende, die sich in die Gemeinschaft der Kunstkörperproduzenten verirrten, haben denn auch ihr Staunen überwunden und an dem Gruppenwerk mitgebastelt. Orientierung und Vorbildleiber können die Mitspieler von den 'bodies on display' beziehen: plastikbunten Wesen, deren Gestalt sich freier Kombinatorik der menschlichen Gliedmaßen verdankt.
Mit dem Versuch, die verlorene Körperlichkeit virtuell zu repräsentieren, läßt sich die CyberArt auf das wohl älteste Projekt der Bildenden Kunst ein. Denn seit den Tagen der Höhlenmalerei ist solche Fixierung und ersatzweise Abbildung der vergänglichen menschlichen Physis deren vornehmstes Thema. Daran änderte sich bis in die Gegenwart wenig, wohl aber an der Perspektive. Den Avantgarden der Moderne begann der Körper als Objekt von Schönheit und Begierde zu entgleiten. Er wurde zu einer einzigen Problemzone, einem Objekt von Zurichtung und Gefährdung, Verletzung und Verstümmelung durch die industrielle Technik und Arbeitsorganisation.
Von den kaputten und verformten Körpern des Dadaismus und Surrealismus führt in dieser Hinsicht eine klare Linie zur jüngeren und jüngsten Körperkunst und BodyArt. Zu Yves Klein etwa, der Mitte der sechziger Jahre seine Modelle nackt und mit blauer Farbe beschmiert über weißes Papier kriechen ließ. Oder zu Valie Export, die ihren Körper gewissermaßen ins Niemandsland hinter dem Monitor verlegte, indem sie sich eine verhängte Schachtel vor die nackte Brust band, eine Art 'begreifbaren Bildschirm', und jeden Interessierten dazu aufforderte, hineinzulangen und ihr Fleisch zu befühlen. Oder eben zu Stelarc, dem verstümmelten Heroen der digitalen Szene, der sich zur lebenden Skulptur erklärt hat und seit einem Vierteljahrhundert BodyArt zu immer neuen Extremen treibt, indem er sein Fleisch schmerzhaften Prozeduren unterzieht, sich nackt an Fleischerhaken aufhängen läßt, seine inneren Organe filmt, sich mit einer künstlichen dritten Hand ausstattet.
Zunehmend jedoch laufen diese Attacken ins Leere. Denn der Körper, ohne den kein menschliches Leben und Handeln war und der sich in der industriellen Epoche bedrohlicher Maschinengewalt ausgeliefert sah, verliert seine Bedeutung; die eine, schicksalhafte Bedeutung jedenfalls. Nahezu alle Tendenzen der digitalen Epoche kulminieren in der Befreiung der Menschheit von den Grenzen ihrer Körperlichkeit: die Cyborgisierung, der genetische und ersatzteiltechnische Umbau des Körpers; die Eroberung des Alls, die Ausweitung unseres Lebens also auf Räume, in denen kein Körper ungeschützt existieren kann; die Migration weiter Wirklichkeitsbereiche in den Cyberspace. Der Körperbau, den Bodies©NCorporated inszeniert, kündet so von der dialektischen Aufhebung des Fleisches - seiner Entwertung im Realraum wie seiner Einwanderung in den Datenraum.
CyberArt ist die Kunst zu diesem digitalen Leben. Cyberkünstler gestalten den Datenraum, wie die Baumeister, Bildhauer und Maler vergangener Zeiten die religiösen Zentren, öffentlichen Plätze und repräsentativen Gebäude der Städte gestalteten. Daß sich heute, in der digitalen Frühzeit, viele CyberArt-Experimente dabei auf die Folgen der eskalierenden Entkörperlichung kaprizieren, bezeichnet die Identitätskrise dieser Übergangsperiode. Sie äußert sich ebenso in spektakulären BodyArt-Experimenten, etwa im 'Protest' des Chicagoer Kunstprofessors Eduardo Kac, der die Zweidimensionalität der Computerschirme und Interfaces attackiert, indem er sich einen Mikrochip in den Fußknöchel injizierte. Ganz zu schweigen von der populären Obsession der Körpermodifikation, einer Massenbewegung mit unzähligen Homepages und Diskussionsgruppen, die sich Tätowierungen, Piercing und anderen Formen der Selbstverstümmelung widmen.
Das drohende Verschwinden der Körper und die Frage ihrer Repräsentation im Datenraum sind denn auch beständige Motive der CyberArt - von simplen Avatar-Konstruktionen bis zu komplexen Installationen wie Jill Scotts 'Digital Body Automata', der die Fortschritte in der technischen Aufrüstung und Evolutionierung des Körpers dokumentiert und reflektiert. Als 'soziale Skulptur' geht Victoria Vesnas Bodies©INCorporated jedoch einen entscheidenden Schritt weiter. Die Installation erlaubt den Eintritt ins Werk, ins virtuelle Regelreich. Das Publikum wird vom Betrachter zum Bewohner. Körperverlust, Körperangst und Körpersehnsucht sowie die damit verbundenen Gefühle von Nähe und Gemeinschaft lassen sich erfahren und ausagieren. Diese gelungene Einheit von Thema und Form macht die Installation zu einem der besten Beispiele dafür, was CyberArt allen Einschränkungen an Bandbreite zum Trotz heute schon erreichen kann.
Copyright Verlag Heinz Heise. Zuletzt aktualisiert von Hajo Schulz, 14.08.98 |